von Kays Al-Khanak (Giessener Allgemeine, 16.11.2018)
Diskriminierung, die erste Liebe oder der Wunsch nach selbstbestimmtem Leben: Vor allem Jugendliche aus patriarchalisch geprägten Familien können dabei in Konflikt mit den dort gelebten Werten geraten. Ein Team an der Brüder-Grimm-Schule in Kleinlinden versucht, daraus resultierenden Problemen bereits frühzeitig zu begegnen.
Deine Mutter war schon als kleiner Junge hässlich: Es gibt Jugendliche, die sich bei solchen Witzen nicht mehr einkriegen vor Lachen. Es gibt aber auch andere Jugendliche, die sich in ihrer Ehre verletzt fühlen. Die Folge kann Gewalt sein – verbal oder körperlich. Junge Menschen aus patriarchalisch geprägten Familien stehen oftmals unter einem enormen Druck: Sie sollen den Erwartungen von Außen und gleichzeitig denen ihrer Familie gerecht werden. Auch Schulen müssen sich diesem Thema stellen. An der Brüder-Grimm-Schule (BGS) in Kleinlinden zum Beispiel gibt es ein Beratungsteam, das solche gesellschaftspolitischen Realitäten wahrnimmt – und darauf präventiv reagiert.
Das geschieht in der täglichen Arbeit – aber auch mit Projekttagen wie dem, der am Dienstag stattfindet. Die BGS ist eine von acht Schulen in Hessen, an denen der Verein Terre des Femmes ein interaktives Theaterstück aufführt. Im Vorfeld der Veranstaltung haben sich Schüler der neunten Klassen im Religions- und Ethikunterricht mit Fragen zum Thema »Mein Leben, meine Liebe, meine Ehre« beschäftigt. Es geht um Gewalt im Namen der Ehre (Kasten). Samuel Karbe, Stufenleiter der 9 und 10 an der BGS, sagt: »Wer das Thema nicht ernst nimmt, muss sich nicht wundern, wenn er am Ende vor Problemen steht.«
Das Beratungsteam an der BGS ist breit aufgestellt. Es besteht aus der Schulpfarrerin und -seelsorgerin Christel Arens-Reul, Schulsozialarbeitern, Mitarbeitern des regionalen Beratungs- und Förderzentrums, Vertrauenslehrkräften sowie Berufseinstiegsbegleiterinnen. Unterstützt wird die Arbeit von der Schulpsychologin Katrin Roos vom Staatlichen Schulamt. Roos sagt, Gewalt im Namen der Ehre komme vor allem in patriarchalisch geprägten Familien vor. Es treffe meist Mädchen. Verstoßen sie beispielsweise gegen die engen Regeln weiblicher Sexualität, wollen sie aus dem familiären Korsett ausbrechen, eigene Wege gehen, sehen manche Familien ihr gesellschaftliches Ansehen, ihre Ehre in Gefahr. Aber auch Jungs können Opfer dieses Systems sein. Weil sie schon früh in ihre Rolle als Familienoberhaupt und »Beschützer« der weiblichen Familienmitglieder gedrängt werden.
Bricht beispielsweise ein Mädchen mit diesen Strukturen, kann die Stigmatisierung und der Ausstoß aus der Familiengemeinschaft eine Folge sein. Die Gefahr, am Ende ganz allein zu sein, ist groß. Vor allem bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund sei die Familie ein Anker in einem Leben voller Unklarheiten, sagt Karbe. Frei nach dem deutsch-iranischen Rapper Fard »Fremd hier, fremd da, überall ein Fremder« fühlten sich manche Jugendliche heimatlos in einem Leben zwischen zwei Kulturen. »Da hat Familie natürlich eine ganz spezielle Bedeutung im Leben der Jugendlichen.«
Die Mitglieder des Beratungsteams und das Kollegium sind sich der Sensibilität des Themas bewusst. »Deswegen«, sagt die Schulseelsorgerin Arens-Reul, »signalisieren wir den Schülern, dass wir uns dafür interessieren, in welchen Strukturen sie leben. Wir zeigen Präsenz und Gesprächsbereitschaft, bieten Beratung und Begleitung an.« Den Jugendlichen begegne das Team auf Augenhöhe, nehme sie und ihre Sorgen ernst. Um dann gemeinsam Lösungen zu finden.
Das Gesprächsangebot ist niedrigschwellig und findet in geschützten Räumen statt. »Mädchen vertrauen sich zuerst ihrer eher westlich geprägten Freundin an«, erzählt Arens-Reul. »Zusammen finden sie den Weg zu mir oder anderen Beratungskolleginnen, um über das Problem zu sprechen.« Das sei der erste Schritt. Oft geben Lehrer Hinweise, wenn ihnen zum Beispiel auffällt, dass es bei einem Schüler zu einer Verhaltensänderung kommt. Das Beratungsteam bespricht dann gemeinsam das weitere Vorgehen.
An der BGS lernen Kinder und Jugendliche aus der ganzen Welt. Deswegen sei es ein wichtiges Anliegen, sagt Arens-Reul, Schüler miteinander ins Gespräch zu bringen. »Das gelingt, wenn wir Räume schaffen, in denen sich Jugendliche begegnen«, sagt sie. Perspektiven zu wechseln und Horizonte zu erweitern, gehöre ebenso dazu, wie Werte und Normen zu hinterfragen. Das könne auch bedeuten, andere Lebensentwürfe zu akzeptieren – solange diese sich im rechtlichen Rahmen bewegen und keine Gefahr droht.
Die Seelsorgerin betont: »Wo geredet wird und Menschen zusammenkommen, etwas gemeinsam unternehmen, dann ist das zum Beispiel nicht mehr der Mitschüler aus einem fremden Land, sondern der Jugendliche, der gerade mit mir in einem Kanu sitzt und paddelt.« Toleranz, Respekt und gegenseitiges Verstehen entstehe dort, wo Menschen hinter der Nationalität und Fremdheit entdeckten, was andere beschäftigt und umtreibt. Arens-Reul: »Solche Räume schaffen wir an unserer Schule.«
Die Einstellung der Jugendlichen soll sich durch Kontakte ändern. Karbe sagt, es gebe heute viele voneinander getrennte Lebenswelten. In einer integrierten Gesamtschule kämen sie aber alle zusammen. »Bevor die Gesellschaft Lösungen anbieten kann, müssen wir sie in der Schule schon gemeinsam finden.«